Plenarvortrag
Donnerstag, 15. Juni, 9:15 Uhr – Drift 21, Raum 0.32
Was ist „Europäische Kultur“?
Genese, Probleme und Perspektiven eines kontroversen Konzepts in und jenseits von EU-Diskursen
Dr. Florian Lippert (Universität Groningen)
Generell waren Bezugnahmen auf eine „europäische Kultur“ in vielen politischen und gesellschaftlichen Diskursen der letzten Jahrzehnte ebenso üblich wie umstritten. Hatte etwa die Europäische Kommission seit den 1970er Jahren die Förderung des „europäisches Kulturerbes“ als einen Eckpfeiler ihrer Arbeit definiert, sind seit den 2000er Jahren auch ein zunehmender Fokus auf „europäische Werte“ (Calligaro 2021) sowie teils kontroverse Diskurse über eine „europäische kulturelle Identität“ (Foret & Trino 2022) zu beobachten. Laut der Kommission ist eine gemeinsame europäische Kultur nichts weniger als der Schlüssel für „Integration und interkulturellen Dialog (…). Sie bringt Menschen zusammen, auch neu angekommene Flüchtlinge und andere Migranten, und hilft uns, uns als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen“ (EK, 2018).
Andererseits werden Aufrufe zur Verteidigung einer „europäischen Kultur“ auch zunehmend von rechtspopulistischen Parteien und nationalistischen Bewegungen für kulturrassistische Ab- und Ausgrenzungsstrategien genutzt. Auch hier spielen Verweise auf ein gemeinsames „Erbe“ (Piacentini et al., 2020), auf eine „Identität“ und eine historische „Einheit“ Europas wichtige Rollen, letzteres oft in Verbindung mit alten und neuen Formen des orientalistischen Rassismus oder „postkolonialer Melancholie“ (Gilroy, 2004).
In der Kulturtheorie wiederum wird ein „dringendes Bedürfnis nach Darstellung der Spezifik der europäischen Kultur“ (Williams et al. 2011, 1) diagnostiziert. Einerseits erscheint dieser Bedarf in der Tat gegeben, gerade angesichts der Tatsache, dass Definitionen der „europäischen Kultur“ in den Veröffentlichungen der Kommission und anderer Gremien zu diesem Thema fehlen, was das extremistische „Hijacking“ des Begriffs wohl erleichtert; auch hat die Kommission selbst wiederholt KulturwissenschaftlerInnen aufgefordert, zu einer Definition beizutragen. Andererseits ist zu fragen, ob eine solche „Spezifizierung“ und die Unterstützung einer weiteren affirmativen Verwendung des Begriffs angesichts seines Potenzials für Missbrauch, Diskriminierung und neue kulturelle Hegemonisierung tatsächlich wünschenswert ist, und grundsätzlicher, ob sie angesichts der inhaltlichen Breite beider Komponenten – „europäisch“ und „Kultur“ – überhaupt möglich ist.
Im Vortrag werden diese Fragen anhand kulturtheoretischer Ansätze von Derrida, Bauman und François Jullien sowie praktischer Beispiele aus jüngeren EU-Diskursen nachgegangen werden. Eine zentrale zu erörternde These ist, dass der Diskurs eines dynamischen und prozessualen Kulturbegriffs bedarf, um fruchtbar zu bleiben.
Dr. Florian Lippert ist Associate Professor für Europäische Kultur und Literatur und Direktor des Forschungszentrums für das Studium demokratischer Kulturen und Politik (DemCP) an der Rijksuniversiteit Groningen. Zuvor arbeitete er am King’s College London, an der Sungshin-Universität Seoul und an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Er war zuletzt Research Fellow am Netherlands Institute for Advanced Study (NIAS), Amsterdam. Florian Lippert ist Autor von „Selbstreferenz in Literatur und Wissenschaft“ (Wilhelm Fink, 2013) und Herausgeber von „Self-Reflection in Literature“ (Brill/Rodopi 2020, mit Marcel Schmid) und hat Aufsätze zu Kultur und Politik, moderner und zeitgenössischer Literatur und Film, der europäischen „Flüchtlingskrise“, Diskurstheorie und Systemtheorie publiziert. Aktuell befasst er sich mit Fragen „europäischer Kultur“ in gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Diskursen.